Das Tagebuch eines Mannes von 50 Jahren von Henry James

In fremden Tagebüchern lesen? Undenkbar, ein Tabubruch sondergleichen. Aber so reizvoll, stehen in Tagebüchern doch zumeist die intimsten Gedanken eines Menschen. Dennoch: Verboten. Ein erdachtes Tagebuch hingegen ist etwas völlig anderes. Es erlaubt das voyeuristische Schmökern in den persönlichsten Gedanken eines fremden Menschen; ganz und gar ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Und wenn dieses fiktive Tagebuch noch dazu aus der Feder eines gewissen Henry James stammt, dann sind zwei Dinge gewiss: Der brillante Stil und die psychologische Raffinesse.

In Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren, die dem Manesse Band seinen Titel gebende Erzählung, lässt Henry James einen namenlosen General im Ruhestand die Geschehnisse weniger Tage nicht nur minutiös protokollieren, sondern sich auch selbst entlarven. Das Thema – wie wohl in den meisten Tagebüchern – ist die Liebe.
Florenz im Frühling des Jahres 1874. Nach siebenundzwanzig Jahren kehrt ebenjener General nach Italien zurück. Statt es jedoch »völlig verändert« vorzufinden, erscheint ihm alles so vertraut, dass ihm ist, als »exhumiere« er eine Szene, die »vor mehr als einem Vierteljahrhundert begraben wurde«.
Der namenlose Verfasser streift durch die Stadt, durch Museen und durch den Boboli-Garten: »Der Ort war vollkommen menschenleer – das heißt, erfüllt war er von ihr. Ich schloss die Augen und lauschte; fast war es, als hörte ich das Rauschen ihres Kleides auf dem Kies.« Mit „sie“, das wird bald deutlich, ist die Contessa Salvi gemeint. Die große – verlorene – Liebe des Generals a.D..
Mit einer zufälligen Begegnung, nimmt die Erzählung, ganz in James’scher Manier, subtil an Fahrt auf. 1878 hielt James in seinem Tagebuch fest, er wolle über einen älteren Mann schreiben, dem ein junger Mann »als Ebenbild seiner eigenen jugendlichen Arglosigkeit – seiner eigenen scheuen Leidenschaft« erscheint. Gesagt, getan: Der alternde General trifft in Florenz auf den jungen Engländer Mr. Stanmer, der, wie sich herausstellt, in die Tochter der Contessa Salvi verliebt ist. Droht sich die Geschichte einer verlorenen Liebe zu wiederholen?
Der General verrät sich in seinen Tagebucheinträgen selbst. Ganz allmählich enthüllt er seinen Charakter und seine wahre Absicht tritt zu Tage: Den jungen Mann vor vermeintlichem Unglück bewahren. Doch was hat es mit dem lange zurückliegenden Zerwürfnis zwischen der Contessa und ihm auf sich? Weshalb endete die Liebe unerfüllt? Und werden seine Einflüsterungen Erfolg haben?
James inszeniert in dieser kurzen Geschichte wahrlich ein brillantes Psychogramm. Erstmal veröffentlicht wurde die Erzählung im Juli 1879 im Harper’s Magazine und in Macmillan’s Magazine, in diesem Band, wunderschönen Band mit rotem Schnitt, festem Papier und edlem Leineneinband, liegt sie, nebst fünf gleichfalls lesenswerten Erzählungen, erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Übersetzt wurden die Erzählungen allesamt von dem renommierten Literaturübersetzer Friedhelm Rathjen, der 2013 mit dem Paul-Celan-Preis für sein Gesamtwerk und insbesondere für die Übertragung von James Joyce‘ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (ebenfalls Manesse) ausgezeichnet wurde.
Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren
von Henry James
Manesse. 416 Seiten. 26,95 Euro.
Leinengebunden mit Schutzumschlag.
Vielen Dank an den Manesse Verlag für das Rezensionsexemplar.