Leinsee von Anne Reinecke

Liebe Literaturkritiker, habt ihr Anne Reineckes »Leinsee« nicht gelesen? Bisher keine Rezensionen in den großen Feuilletons. DIE ZEIT schweigt, die FAZ tut es ihr gleich. Auch die Stichwortsuche bei Perlentaucher führte ins Leere. Lasst es euch gesagt sein, liebe Feuilletonisten: Ihr habt etwas verpasst!

Ein literarisches Debüt: Leinsee von Anne Reinecke

»Dieses Gelb war unangemessen. Woher die Farbe kam, konnte Karl sich nicht erklären. Soweit er sich erinnerte, hatte er nichts Gelbes gegessen. Seit zwanzig Minuten kotzte er sich – ja, was eigentlich – aus dem Leib.« Mit diesen Zeilen beginnt LeinseeKotzte. Uff. Gossensprache. Hätte ich diese ersten Zeilen in der Buchhandlung gelesen, hätte ich das Buch zugeklappt und zurück ins Regal gestellt. Gossensprache in der Literatur. Ich weigere mich. Meist. Leinsee las ich jedoch nicht in der Buchhandlung, sondern auf dem heimischen Sofa, lange vor dem offiziellen Erscheinungstermin, als Leseexemplar. Privileg der Buchhändler, Journalisten und Buchblogger.

Kanarienvogelgelb und silbern; Unsichtbar und rot

Anne Reinecke erzählt in Leinsee erzählt von Karl Stiegenhauer. Karl ist noch keine 30 Jahre alt und schon als Künstler erfolgreich. In Berlin hat er sich einen Namen gemacht. Ganz unabhängig von seinen Eltern, dem berühmten Künstler(ehe)paar Ada und August Stiegenhauer. Zu Beginn von Leinsee ist der Vater tot, die Mutter schwer krank. Ihr Leben hängt sprichwörtlich am seidenen Faden. Und Karl? Dessen Leben gerät aus den Fugen.
Vielleicht liegt es an dem Ausgangsdrama, dass mich die Gossensprache in Leinsee gar nicht störte. So wenig, wie bei Helmut Schmidt, der einmal sagte, der Krieg sei eine große Scheiße gewesen. Der große Rhetoriker hätte es nicht besser formulieren können. Und das elende Paar, das Krankheit und Tod heißt? Das ist zum Kotzen. Schlicht und einfach.
Karl ist überfordert. Mit allem. Der Tod des Vaters, die Umstände seines Todes. Die Krankheit der Mutter. Die Vergangenheit. Die Gegenwart. Das künstlerische Erbe. Die eigene Zukunft. Dennoch ist Leinsee ein Buch, in das ich wohlig versunken bin. Reinecke erzählt klar, aber auch poetisch. Nicht so „hard and clear“, wie Hemingway es forderte. Aber definitiv „about what hurts.“
Die Figuren, man mag sie. Alle, mit nur wenigen Ausnahmen. Und die, die man nicht mag, die mag man aus gutem Grund nicht. Die Tonart jeder Figur ist wunderbar getroffen. Wenn die Schicksalsgemeinschaft bei Kaffee und Kuchen im Garten der elterlichen Villa am See sitzt, dann möchte man sich am liebsten dazusetzen.

Makromodus: Wie durch ein Opernglas …

Jedes Kapitel in Leinsee trägt eine oder mehrere Farben als Titel. Grauseiden. Lachsorange. Universumsblau. Farben, die dem Künstler Karl Stiegenhauer in dem jeweiligen Kapitel ins Auge gefallen sind, die treffend etwas beschreiben. Wie durch einen Türspalt schaut der Leser hinein in die Welt eines Menschen, der, als Künstler, in Formen und Farben denkt. Die Geschichte, die Reinecke erzählt, erstreckt sich über mehrere Jahre und ist gänzlich aus der Perspektive von Karl erzählt. Der Tod der Eltern, der schwierige Vergangenheit und der Schmerz, der einem manchmal die Luft zum Atmen zu nehmen scheint, nehmen einen großen Raum ein in Leinsee und sind dabei wunderbar ge- und beschrieben. Anne Reinecke findet eine Erzählmelodie, die mich verzaubert hat.

Die Liebe

Neben aller Trauer ist Leinsee aber auch eine Geschichte über Liebe, mehrere Geschichten über Liebe eigentlich. Ada und August Stiegenhauer hatten eine große Liebe. An einer Stelle heißt es: »Er wandte sich Ada zu und sollte sich nie wieder abwenden.« Mein Herz machte einen Hüpfer als ich diese Formulierung las. Eine Beschreibung von Liebe ohne Adjektive, ohne Metaphern, ohne all die Dinge, welche sonst gerne bemüht werden. Kein „pochendes Herz“, kein „schneller Atem“. Nur eine Bewegung und dann die Ewigkeit.
Und Karl? Wie ist es, das Kind von zweien zu sein, die sich selbst immer genug waren? Die Stiegenhauers vertraten eine unkonventionelle Idee von Elternsein. Karl, das erfährt der Leser, litt. Die große Tragödie, in der die Liebe der Eltern endet, bietet Karl jedoch die Möglichkeit des Verstehen. Und des Vergebens. Und dann ist da noch Tanja. Mitten in der schweren Zeit findet das Kind seinen Weg hinein in das Leben von Karl. Tanja und Karl sind – trotz zweistelligem Altersunterschied – Seelenverwandte, sie treffen sich auf einer spielerischen Ebene, auf einer Ebene vielleicht zwischen Kindlichkeit und der Kunst.
Ein wirklich wunderbares Buch. Wie ich bereits vor einigen Wochen auf Instagram bemerkte: Ich bin verliebt in die Villa am Leinsee, ein wenig in Karl und ganz arg in dieses Buch.

Über die Autorin

Anne Reinecke studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur und arbeitet als Stadtführerin. Leinsee ist ihr Debüt und für das Manuskript wurde sie mit dem Stipendium der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Berlin.
LEINSEE von ANNE REINECKE
Diogenes Verlag. 368 Seiten. 24 Euro.
Leinenband mit Schutzumschlag.
Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.