Im Herzen der Gewalt von Édouard Louis

Die letzten Seiten von Édouard Louis Roman Im Herzen der Gewalt las ich noch im alten Jahr. Seitdem habe ich einige Klassiker gelesen (etwa Der Mann, der den Zügen nachsah von George Simenon und Der dritte Mann von Graham Greene) und habe den neuen Roman von Haruki Murakami (mit all seinen Geistern) verschlungen. Im Herzen der Gewalt wollte mir jedoch nicht aus dem Sinn. Bereits als ich das erste Mal von dem Roman im Feuilleton las, beschloss ich, dass ich den Roman des französischen Schriftstellers, dessen literarisches Debüt Das Ende von Eddy in Frankreich ein kolossaler Erfolg war, lesen musste – meinem (bereits schwankenden) Stapel mit Büchern, die zu lesen sind zum Trotz. Als ich zu lesen begann, bannte mich das Buch mehr und mehr. Und auch wenn der Roman jetzt ausgelesen im Regal steht, ein entlegener Winkel meines Gehirns ist noch immer mit ihm beschäftigt.

Gegen sechs Uhr morgens zog er eine Waffe und sagte, er werde mich töten

»Ich begegnete Reda an einem Weihnachtsabend in Paris, auf dem Heimweg von einem Abendessen mit Freunden gegen vier Uhr früh. Er sprach mich auf der Straße an, am Ende lud ich ihn ein, in meine Wohnung mitzukommen. (…) Wir verbrachten die restliche Nacht miteinander, unterhielte uns, lachten. Gegen sechs Uhr morgens zog er eine Waffe und sagte, er werde mich töten.«  Der S. Fischer Verlag, bei dem die deutschsprachige Ausgabe erschienen ist, lässt den Schriftsteller im Klappentext selbst zu Wort kommen. Man mag fragen: Spielt das eine Rolle?
Ja! Denn es berührt den tiefen Kern von Louis‘ Roman. Wann immer ich versuchte den Inhalt von Im Herzen der Gewaltzu rekapitulieren – sei es für diesen Artikel oder weil ich bei der Lektüre gefragt wurde, was ich gerade lese -, erschien mir meine Zusammenfassung als völlig unzureichend. Und genau das ist des Pudels Kern.

»Ich erkannte meine eigenen Erinnerungen nicht wieder, als ich sie schilderte … «

Die Macht der Sprache, die Frage nach der Wahrheit und die (zwangsläufige) Verfälschung ebenjener in einer Nacherzählung sind die Leitmotive von Louis‘ Roman: »Ich erkannte meine eigenen Erinnerungen nicht wieder, als ich sie schilderte; die Fragen der beiden Beamten zwangen mich, die Nacht mit Reda anders darzustellen, als ich es gewollt hätte, ich wusste, wenn es mit dem Bericht so weitergehen würde, dann würde es wegen ihrer Fragen oder wegen der Richtung, die sie mir aufdrängten, unmöglich, noch einmal zurückzuspulen.«
Jeder, dem der Ich-Erzähler seine Geschichte erzählt, erschafft seine eigene Variante der Geschehnisse. Seine Freunde, die Ärzte, die Polizisten. Nacherzählung ist immer auch Interpretation. Louis‘ spiegelt das auf fabelhafte Weise anhand der ungewöhnlichen Erzählsituation: Immer wieder unterbricht der Ich-Erzähler seine Schilderungen um seiner Schwester Clara das Wort zu geben, die ihrerseits ihrem Ehemann erklärt, was ihrem Bruder am Weihnachtsabend in Paris widerfahren ist. Eben jener steht währenddessen unbemerkt hinter einer Tür und lauscht den Worten seiner Schwester. Doch nicht nur das, er kommentiert und korrigiert Claras Version. Diese Einschübe sind kursiv gedruckt und in Klammern gesetzt. Eine erzähltechnische Raffinesse, die mich an den berühmten V-Effekt à la Bertholt Brecht erinnert. Die Bemerkungen des Ich-Erzählers, sein Widerspruch gegen die Aussagen seiner Schwester, sind dazu angetan eine gewisse Distanz zum Erzählten, zu der Version des Erzählten, anzumahnen. Was passierte in jener Nacht? Und warum? Louis‘ lässt nicht zu, dass der Leser sich zurück lehnt und jede Nacherzählung samt Interpretation für bare Münze nimmt. Stattdessen ist Im Herzen der Gewalt eine Spurensuche, an deren Ende nur die Gewissheit steht, dass es die eine Wahrheit nicht gibt.

Spannungsverhältnis zwischen Form und Inhalt

Für mich war die Literarizität des Werks, das Spannungsverhältnis zwischen Form und Inhalt ist faszinierend. Perspektive und Sprachebene (ebenfalls gelungen ist der Wechsel der Stimmen, der Klangfarben der Figuren. Wortwahl und Syntax des Ich-Erzählers und seiner Schwester Clara unterscheiden sich deutlich) bilden für mich den größten Reiz dieses Buch zu lesen. Hinrich Schmidt-Henkel hat den Roman wirklich grandios aus dem Französischen ins Deutsche übertragen, denn es ist ihm gelungen die französische Sprachmelodie beizubehalten.
IM HERZEN DER GEWALT von ÉDOUARD LOUISS. Fischer Verlag. 217 Seiten. 20 Euro.
Gebunden mit Schutzumschlag.