Die Kieferninsel von Marion Poschmann

Marion Poschmanns Roman »Die Kieferninseln« (Suhrkamp Verlag) hat es auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Es ist der erste Roman, den ich von der diesjährigen Shortlist lese, aber es zeichnet sich ab: Die Jury wird es schwer haben.

Im Klappentext heißt: „Im Teeland Japan mischen sich Licht und Schatten, das Freudianische Über-Ich und die dunklen Götter des Shintoismus. Und die alte Frage wird neu gestellt: Ist das Leben am Ende ein Traum?“ Treffend! Aber keine Bange: Wer will, kann unendliche viele Fragen an Die Kieferninseln stellen. Wer das nicht möchte, der kann Poschmanns Erzählung auch einfach nur genießen. Denn, das ist sie: Ein literarischer Genuss.
Der Anfang von Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln, erinnert ein wenig an den weltberühmten ersten Satz von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, der da lautet: “Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Bei Poschmann verwandelt sich Gilbert Silvester, so der Name ihres Protagonisten, nicht in ein Insekt, jedoch erwacht Gilbert aus einem Traum mit der festen Überzeugung seine Frau Mathilda der Untreue überführt zu haben: „Er hatte geträumt, daß seine Frau ihn betrog. Gilbert Silvester erwachte und war außer sich.“

Die Kieferninseln: Traum und Wirklichkeit geraten ins Wanken

Gilbert, seines Zeichens Privatdozent an einer Universität, recht unzufrieden mit seiner beruflichen Situation, nimmt diesen Traum für bare Münze. Die Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit gerät in Die Kieferninseln als erstes ins Wanken. Später in der Erzählung gesellen sich Vergangenheit und Gegenwart, Schein und Sein zu den verlorenen Konstanten hinzu. Marion Poschmann schreibt über einen Schwebezustand, über ein ständiges dazwischen.
Gilbert findet sich, nach seiner vermeintlichen Enthüllung, deren Richtigkeit das Leugnen seiner Frau in seinen Augen nur noch eindrücklicher bestätigt, in einem Flugzeug auf dem Weg nach Tokyo, Japan wieder, in dem „früheste(n) Interkontinentalflug, den er so kurzfristig hatte buchen können.“ In Tokyo angekommen, kauft Gilbert sich „einen Reiseführer und paar japanische Klassiker in englischer Übersetzung. Die Werke Bashōs, das Genji Monogatari, das Kopfkissenbuch.“
Nach der nächtlichen Lektüre von Bashōs Reisebeschreibungen im Hotel, beschließt Gilbert seinerseits den Weg Bashōs zu erkunden. Sein Ziel: Die Kieferninseln an der Küste Japans. Seine Reise innerhalb der Reise, Gilbert nennt sie “sein Projekt der Abwendung”, unternimmt er nicht allein, sondern gemeinsam mit einem jungen Japaner, der den (unwahrscheinlichen, aber treffenden) Namen Yosa Tamagotchi trägt. Gilbert trifft Yosa ausgerechnet nach seinem ersten, ernüchternden Telefonat mit seiner Frau Mathilda nach seiner spontanen und überstürzten Abreise nach Japan. Yosa, der sich als gescheitert sieht, will sich das Leben nehmen. Fortan nimmt Gilbert Yosa unter seine Fittiche.
Tagesrestträume, heißt das – im Roman selbst genannte – Stichwort. Die Erzählung ist so unmittelbar aus der Perspekive Gilberts erzählt, dass alles, was irgendwie den Weg in sein Unterbewusstsein findet, auch – gänzlich unkommentiert von einer äußeren Instanz, abgesehen von den wenigen Redeanteilen Mathildas – den Weg in die Erzählung findet. Was ist Realität? Was ist Traum? Was formt, was prägt die Gedanken?

fünf – sieben – fünf

Wiederkehrend ist das Thema der japanischen Dichtkunst, insbesondere das Haiku, einer besonderen japanische Versform. Gilbert beginnt auf seiner Reise selbst zu dichten. Ein Haiku ist an eine strenge Form gebunden. Es besteht aus drei Zeilen, die erste und die letzte Zeile bestehen jeweils zwingend aus fünf Lauteinheiten, während die mittlere Zeile zwingend aus sieben Lauteinheiten besteht.
Auf besondere Weise ist Yosa eine der schönsten literarischen Figuren, die mir in den letzten Monaten begegnet sind. Das ist etwas verwunderlich, denn Yosa ist eigentlich nicht besonders interessant, nicht einmal besonders sympathisch. Yosa ist eigentlich nichts. Für die Konzeption des Romans jedoch ist er alles. Die Figur Yosa ist ein wichtiges Element zur Gestaltung der Rätselhaftigkeit, der Traumhaftigkeit, die den gesamten Roman umgibt: “Er [Gilbert] ließ die Schale eine Weile stehen, damit der Tee abkühlte, führte sie schließlich äußerst vorsichtig zum Mund. Sein Gesicht spiegelte sich auf der Oberfläche der Flüssigkeit, und er sah genauer hin. Es war nicht sein Gesicht, es war Yosas Gesicht.“ Wer ist Yosa? Ist er ein nur Hirngespinst Gilberts? Ein Geist?
Gilbert selbst bleibt dem Leser, trotz der perspektivischen Nähe, ebenfalls seltsam fremd, was sicherlich daran liegt, dass er sich selbst fremd ist, das er sich in einer psychischen Extremsituation befindet, die ihn dazu bringt einem Traum unbedingten Glauben zu schenken und überhastet in ein Flugzeug zu steigen um um die halbe Welt zu fliegen.

Die Kieferninseln: Poesie

Die Kieferninseln ist so schlüssig konzipiert, so perfekt komponiert wie ein Haiku, dass ich ganz verliebt in den Roman bin. Um das Bild des Traumes, des Schlafs aufzugreifen: Poschmann erzählt mit schlafwandlerischer Sicherheit. Sprachlich immer sanft, einhüllend. Geradezu poetisch. Bei aller Rätselhaftigkeit ist die Erzählung jedoch nicht schwer, nicht drückend. Im Gegenteil, sie scheint zu schweben. Marion Poschmann ist eine Poetin, man merkt es an jedem Satz.
DIE KIEFERNINSEL von MARION POSCHMANN
Suhrkamp Verlag. 168 Seiten. 20 Euro.
Gebunden mit Schutzumschlag.
Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag für das Rezensionsexemplar!