Die Geschichte der getrennten Wege von Elena Ferrante

Endlich! Wer vom #ferrantefever gepackt wurde, kann aufatmen: Der dritte Band der neapolitanischen Saga von Elena Ferrante »Die Geschichte der getrennten Wege« ist bei Suhrkamp erschienen. Ich habe die mehr als 500 Seiten verschlungen. V-e-r-s-c-h-l-u-n-g-e-n. Elena Ferrantes Stil ist, wie bereits in den beiden vorherigen Teilen, so einzigartig, wie fesselnd. Man liest und liest und liest. Die Geschichte der getrennten Wege, in dem erneut die Freundschaft zwischen Lenù und Lila im Zentrum steht, ist spannend, hochpolitisch und endet mit einem wahren Paukenschlag.

In Sachen verbaler und non-verbaler Brutalität steht Die Geschichte der getrennten Wege seinen Vorgängern in nichts nach. Auch in diesem Band von Elena Ferrante wird geschimpft, getobt, gedroht, geprügelt und geschossen. Neben den privaten Animositäten der in der Saga auftauchenden Familien (wer heiratet wen, wer beleidigt wen, wer hat wem verziehen, oder auch nicht), nehmen die politischen Wirren und studentischen Tumulte im Italien der 1970er Jahre einen großen Raum im Roman ein. Feminismus, Sozialismus, Faschismus und Terrorismus. Die realhistorischen Geschehnisse der damaligen Zeit bieten die bedrohliche Kulisse für den ebenso bedrohlichen Mikrokosmos der fiktiven Bewohner des Rione vor den Toren Neapels.

Zwei Frauen, zwei Welten und alles gerät aus den Fugen

Die Geschichte der getrennten Wege offenbart eine tiefe Krise in Lenùs Leben. Mit harter Arbeit, nicht etwa dem außergewöhnlichen Talent, das ihrer Freundin Lila von allen Seiten attestiert wird, hat Lenù es geschafft aus dem Rione herauszukommen. Durch Heirat mit einem Universitätsprofessor wird sie Teil eines gänzlich anderen Milieus. Sie veröffentlicht ein Buch, welches zu einem großen Erfolg wird. Doch sie entfernt sich – nicht nur räumlich – weiter und weiter von Lila. Je weiter diese Entfremdung fortschreitet, desto größer werden die Selbstzweifel, die Lenù quälen. Sie gipfeln in einer Schaffenskrise, hinzu kommt eine handfeste Ehekrise.
Auch Lilas Leben ist aus den Fugen geraten. Getrennt, jedoch nicht geschieden von ihrem brutalen Ehemann, schuftet sie in einer Fabrik um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Lila erfährt am eigenen Leib, was für Lenú und unzählige junge Studenten, die dem Kommunismus zugeneigt sind, nur ein abstrakte Theorie ist: Die Arbeitswelt der kleinen Leute, in der Erniedrigungen und Schikane zur Tagesordnung gehören. Welten prallen aufeinander. Dennoch sieht Lila Lenù und ihre Entscheidungen mit einer Hellsichtigkeit, die der Erzählerin selbst gänzlich zu fehlen scheint. Die wilde, ungezügelte Lila erscheint – während sie sich selbst zugrunde richtet – als die Stimme der Vernuft und Lenù täte gut daran, auf sie zu hören.

Bei Elena Ferrante ist niemand, wie er scheint

Elena Ferrante erzählt jedoch nicht nur eine spannende und weitschweifige Mafia-Räuberpistole aus der Stadt zu Füßen des Vesuvs. Es wird immer literarischer. Die große Neapolitanische Saga erscheint fast als eine Art Allegorie. Als ein epischer Kampf um Gut und Böse. Alles scheint im Gegensatz zu einander zu stehen. Allein Lenù und Lila. Welch ein Gegensatzpaar, wie Tag und Nacht. Allein rein optisch: Lila ist dunkelhaarig, hager. Lenù dagegen eher blond und pummelig. Lila ist wild, unzähmbar, impulsiv. Lenù dagegen vernuftbegabter. Sind Lenù und Lila überhaupt zwei Figuren? Sind sie nicht vielmehr ein janusköpfiges Wesen? Siamesische Zwillinge? Der gute Zwilling (Lenù) und der böse Zwilling (Lila)? Oder gar anders herum?
Niemand in Ferrantes Kosmos ist, wie er scheint. Und wenn die Maske fällt, dann steht dahinter eine um 180° Grad veränderte Person. Stefano, den Lila im zweiten Band geheiratet hat, ist ein Beispiel dafür. Er verwandelt sich vom den sympatischen jungen Mann, der ihr den Hof gemacht hat, in einen brutalen Schläger, der sie auf der Hochzeitsreise schwer misshandelt. Mit Bruno Soccavo, dem Betreiber der Fabrik, in der Lila schuftet, ist es ganz ähnlich. Und Nino? Nino Sarratore? Eine Figur, die schwer zu fassen ist. Sie entgleitet immer wieder aufs Neue. Einzig stetig in seiner Freundlichkeit, seiner Gutmütigkeit erscheint Enzo. (Und um ihn bange ich.)
Die Geschichte der getrennten Wege endet mit einem Paukenschlag. Wie der Vesuv in bedrohlicher Nähe zu Neapel – schwelen und brodeln die Konflikte im Rione weiter. Gewalt ist allgegenwärtig in Ferrantes Kosmos. Im ersten Band war es der Vater, der die kleine Lila aus dem Fenster warf, ihren Körper zerschmetterte, um die Diskussion über einen weiteren Schulbesuch zu beenden. Im zweiten Teil war es Stefano, der Lila schwer misshandelte. Im dritten Teil, werden Menschen auch auf offener Straße – mit welchem Hintergrund auch immer – ermordet. Worin wird diese Gewalt gipfeln? Wird Lila – die ja noch immer verschwunden ist – wieder auftauchen?
Gut Ding‘ will Weile haben. Dass Suhrkamp die Erscheinungstermine für den dritten und den vierten Band der Neapolitanischen Saga um mehrere Monate verschoben hat, spannt diejenigen, die dem #ferrantefever verfallen sind natürlich zusätzlich auf die Folter. Jedoch stemmt die Übersetzerin Karin Krieger eine gewaltige Aufgabe mit der Übersetzung aller vier Teile der Tetralogie, von denen jeder zwischen 400 und 500 Seiten stark ist. Es ehrt den Verlag, dass die Qualität der Übersetzung vor etwaigen Profitgedanken steht. Der vierte – und finale – Band der Saga Die Geschichte des verlorenen Kindes ist für den 4. Februar 2018 angekündigt.
DIE GESCHICHTE DER GETRENNTEN WEGE von ELENA FERRANTE
Suhrkamp. 539 Seiten. 24 Euro.
Gebunden mit Schutzumschlag.
Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag für das Rezensionsexemplar!