Schlafende Sonne von Thomas Lehr

»Schlafende Sonne« von Thomas Lehr ist kein Buch für den Urlaub, kein Buch, das man vor dem Einschlafen liest und erst recht kein Buch für Zwischendurch. »Schlafende Sonne« ist mehr als anspruchsvoll, es ist abstrakt und eine Willensanstrengung für den Leser. Und dennoch: Kauft dieses Buch! Es besitzt Qualitäten, die durchaus rar sind. Um den Literaturkritiker Thomasz Kurianowicz (DIE ZEIT) zu zitieren: „Thomas Lehrs Roman ist Literatur.“

Die Rezensionen im deutschen Feuilleton und die Lesermeinungen zu Thomas Lehrs neuem Roman Schlafende Sonne, der auf der Shortlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis steht, stehen sich diametral gegenüber. Epochal, so die Meinung der einen. Unlesbar, so die Meinung der anderen. Mit Spannung und mit ein wenig Furcht habe ich mich an die Lektüre gemacht und binnen weniger Minuten begann mein Kopf zu schwirren.
Man kann sicherlich viele Vergleiche und Metaphern bemühen, um Thomas Lehrs Roman zu beschreiben. Ich bemühe dieses Bild: Eine Frau, zwei Männer. Ein Beziehungsgeflecht. Das sind die Figuren, die in einer kleinen Schneekugel stecken. Der Autor schüttelt die Schneekugel kräftig, die Figuren sind kaum mehr zu erkennen und herabrieseln funkelnde, erzählerische Versatzstücke, die inhaltlich das gesamte vergangene Jahrhundert umfassen.
Thomas Lehr ist Naturwissenschaftler und – das wird schon nach wenigen Seiten deutlich – ein ausgesprochen kluger Kopf und ein großer Erzähler. Es gibt immer wieder Passagen in Schlafende Sonne, in denen ich mich – im positiven Sinne – in der Erzählung verloren habe. Jedoch: Es gab auch sehr, sehr viele Momente, in denen ich die Erzählung verloren habe. Immer dann, wenn die Erzählung wieder ins Abstrakte abgleitete und ich mit jedem Wort, das ich las, den Halt weiter verlor, wurde ich nachgerade ein wenig wütend. „Es war doch gerade so schön“, hätte ich Thomas Lehr anbrüllen mögen.
Diese Passagen sind sprachlich wunderschön, die Worte stehen in Harmonie zueinander. Ein Satz reiht sich perfekt an den nächsten Satz. Inhaltlich jedoch sind diese Passagen von einer Unschärfe, die es mir extrem schwer gemacht hat eine Handlung auszumachen oder auch nur zu folgen. Nach wenigen Seiten Lektüre habe ich mich mit einem Bleistift in der Hand wiedergefunden. Wort für Wort, Zeile für Zeile nachzeichnend. Liest man Schlafende Sonne laut, wird es (ein ganz bisschen) einfacher, vor allem aber offenbart sich dann die Schönheit von Lehrs kluger und klarer Sprache, die dennoch poetisch ist.
Schlafende Sonne ist nicht – wie in vielen Kommentaren zu lesen – unlesbar. Der Roman ist lesbar, jedoch erfordert er eine enorme Aufmerksamkeit und – in meinem Fall – die ein oder andere „Was ist …“-Frage an Google.
Das Kapitel 5., das den Titel KAISERPANORAMA / BLUT UND EISEN trägt, habe ich dreimal gelesen. Sehr genau gelesen. Ich las und staunte. Dennoch muss ich gestehen: Ich habe es noch immer nicht in Gänze verstanden. Das Kapitel erscheint wie ein abstrahierter Bewusstseinstrom. Ich liebe Literatur, die die formalen Möglichkeiten des Erzählens auslotet. Ich würde darauf wetten, dass in den nächsten Monaten und Jahren diverse Arbeiten an deutschen Universitäten über Schlafende Sonne geschrieben werden. Gleichzeitig verstehe ich aber auch, dass Menschen, die bei formalen literarischen Kinkerlitzchen nicht in Verzückung geraten, Lehrs Wälzer (welcher noch dazu der erste Teil einer Trilogie sein soll) gegen die Wand donnern möchten.
Was für einen Raum hat Lehr in diesem Kapitel (und in diesem Roman) geschaffen? Hat er nicht vielmehr einen Nichtraum geschaffen? „Ist Kunst ein Zurückgehen.“, fragt der Text (und fragt nicht siehe die Interpunktion!). Immer wieder geht es zurück in Schlafende Sonne. In Kapitel 5 zurück in die Zeit, in der Deutschland noch einen Kaiser hatte. Zurück in die Vergangenheit, durch die Erinnerung an Bilder:
„Du schließt die Augen, als wäre das noch nötig,
als hieltest du sie nicht seit Jahren geschlossen,
und fragst dich, woher all das Licht in deinem Kopf.
Das Licht und die Magazine (so hieß es, wie bei Waffen) von Bildern,
stereoskopischen Aufnahmen, Glasplatten,
bemalt und koloriert von Hunderten verzweifelter Träume.“
Das Kaiserpanorama. (Eine Frage für Google.) Eine Art „Diaprojektor“, der Bilder schon damals, Anfang des vergangenen Jahrhunderts, dreidimensional darstellen konnte, eine große Sensation war und sich großer Beliebtheit erfreute. Lehr entfaltet daraus einen Bewusstseinsstrom, dem ich manchmal besser, manchmal schlechter folgen konnte.
Um auf die Qualitäten des Buches zurückzukommen, die Lehrs Roman ohne Zweifel besitzt, zu ihnen zählen: Lehrs Sprachgewalt. Sein Wissen. Und schließlich auch sein Mut, ein solches Buch zu schreiben. (Und der Mut des Hanser Verlags ein solches Buch zu veröffentlichen.)
Große Romane haben ihre Zeitgenossen immer ge- und manchmal auch überfordert. Man denke an Marcel Proust, der, wie gerade in den Zeitungen zu lesen war, gutes Geld für die Veröffentlichung positiver Rezensionen seines Romans „In Swanns Welt“ zahlte und diese dann auch gleich selbst verfasste. Auch sein Werk – verlegt auf eigene Kosten – galt als „unlesbar“. Was ist mit James Joyce? Selbst „Madame Bovary“ von Flaubert war ein Schock für zeitgenössische Leser. Schlafende Sonne ist eine Herausforderung. Und es will eine Herausforderung sein. Vielleicht – die Zeit wird es zeigen – wird auch Lehrs Roman ein solch epochales Werk, das ein neues Genre begründet. Wir werden sehen. Literatur ist eben auch eine Kunstform. Und kein reines Konsumprodukt. Ich bin gespannt, ob Lehr den Deutschen Buchpreis gewinnen wird!
SCHLAFENDE SONNE von THOMAS LEHR
Hanser Verlag. 612 Seiten. 28 Euro.
Gebunden mit Schutzumschlag.
Vielen Dank an den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar!