Das Ministerium des äussersten Glücks von Arundhati Roy

Der neue Roman von Arundhati Roy »Das Ministerium des äussersten Glücks« (S. Fischer) spielt erneut in Indien und ist so unvergesslich wie sein Vorgänger.

Für Arundhati Roy bedeutete Der Gott der kleinen Dinge den internationalen Durchbruch als Schriftstellerin. Für den Roman erhielt die in Indien geborene Autorin 1997 den britischen Brooker Literaturpreis. Da ich das Buch vor vielen Jahren gelesen habe, ist mir kaum etwas im Gedächtnis geblieben. Wohl aber – so abgedroschen es klingen mag – im Herzen. Ihr wisst, was ich meine: Es gibt diese besonderen Bücher, die Spuren hinterlassen.
Arundhati Roys Leben selbst liest sich wie ein Roman. Sie wurde 1959 (anderen Quellen zufolge 1961) in Indien geboren, nach der Trennung ihrer Eltern wuchs sie in Kerala bei ihrer Mutter auf: „Ich war ein Kind, das überall herumstreunen und stundenlang mit der Angel am Fluss sitzen durfte. Dieser Mangel an Konvention war einfach herrlich.“ Sechzehnjährig zieht sie nach Neu-Delhi und beginnt dort ein Architekturstudium. Gemeinsam mit Freunden wohnt sie in einer Wellblechhütte in einer Armenkolonie direkt neben dem College, an dem sie studiert. Arundhati Roy träumt nicht von einer großen Karriere als Architektin, ihr Traum ist die Schriftstellerei. Mit dem Erscheinen des Romans Der Gott der kleinen Dinge und dem internationalen Erfolg des Roman wird dieser Traum schließlich Wirklichkeit. Fortan setzt Roy all ihre Kraft für ihr politisches und humanitäres Engagement ein. Sie schweigt nicht, sondern wird zum Sprachrohr vieler Inder. In Artikeln und Essays prangert sie Probleme und Missstände des Landes und der Gesellschaft an. Der Essayband Aus der Werkstatt der Demokratie ist ebenfalls im S. Fischer Verlagerschienen.

Die Arbeit an Das Ministerium des äussersten Glücks dauerte mehr als zehn Jahre: „The timing is astonishing – most of all to me! I could not have written it any slower or any faster than I did. I wasn’t in a hurry – it just took its time, and I was alright with that.“, erklärt Roy in einem Interview mit Penguin Books, welches hier in Gänze zu lesen ist.

Anjums kleines Universum

Das Ministerium des äussersten Glücks ist ein wortgewaltiger Roman. Voller Tiefe, voller Sprachpoesie. Der Leser streift durch den Roman, wie durch ein verschachteltes Gebäude mit vielen Zimmern. „Auf einem Friedhof in der Altstadt von Delhi wird ein handgeknüpfter Teppich ausgerollt. Auf einem Bürgersteig taucht plötzlich kurz nach Mitternacht ein Baby auf. In einem verschneiten Tal schreibt ein Vater einen Brief an seine fünfjährige Tochter über die vielen Menschen, die zu ihrer Beerdigung kamen. In einem Zimmer im ersten Stock liest eine einsame Frau die Notizbücher ihres Geliebten. Im Jannat Guest House umarmen sich im Schlaf fest zwei Menschen, als hätten sie sich eben erst getroffen – dabei kennen sie einander schon ein Leben lang.“, heißt es im Klappentext.

Anjum steht im Mittelpunkt. Wie die Erde um die Sonne, scheinen die Menschen um Anjum zu kreisen. Mitten in dem politischen Wirrwarr Indiens mit all seinen gesellschaftlichen und politischen Konflikten stellt Anjums kleine Pension, ihr Gästehaus mitten auf einem alten Friedhof gebaut, eine Art sichere Insel für die gestrandeten der Gesellschaft dar.

Im Lauf der Zeit baute Anjum Zimmer um die Gräber ihrer Verwandten. In jedem Zimmer befand sich ein Grab (oder auch zwei) und ein Bett. Oder auch zwei. Sie baute ein seperates Badehaus und eine Toilette mit einem eigenen Klärbehälter. Wasser holte sie von der öffentlichen Pumpe. (…) Anjum begann, ein paar Zimmer an verarmte Reisende zu vermieten (Werbung erfolgte ausschließlich über Mundpropaganda). Es gab nicht sehr viele Interessenten, denn selbstverständlich waren Lokalität und Umgebung, ganz zu schweigen von der Vermieterin selbst, nicht nach jedermanns Geschmack.
Anjum ist eine wunderbare und vor allem außergewöhnliche literarische Figur. Warmherzig, voller Sehnsucht. Lebensklug, aber auch verletztlich. Sie gehört der sozialen Gruppe der Hijra an. Als Hijras werden in Indien zumeist Hermaphroditen oder Männer, die sich mit einer männlichen Geschlechtsposition nicht identifizieren können, bezeichnet. Sie präsentieren sich weiblich, sie tragen Saris und nehmen Frauennamen an. Anjum lebt ihre ersten Lebensjahre als langersehnter kleiner Junge Aftab:
Während der ersten Lebensjahre Aftabs war Jahanara Begums Geheimnis sicher. Sie wartete darauf, dass sein Mädchenteil heilte, behielt ihn immer in ihrer Nähe und beschützte ihn entschlossen. Auch nachdem ihr jüngster Sohn Saqib geboren war, ließ sie Aftab nicht weit von sich fort. Das war kein ungewöhnliches Verhalten für eine Frau, die so lange und verzweifelt auf einen Sohn gewartet hatte.
Aftabs/Anjums Los ist kein leichtes und der Leidensdruck wächst stetig. In der Schule wird gespottet: „Er ist eine Sie. Er ist kein Er und keine Sie. Er ist ein Er und eine Sie. Sie-Er, Er-Sie hi,hi,hi!“ Immer wieder veranschaulicht Arundhati Roy Anjums Zerrissenheit mit deutlichen Bildern: An ihrer Stimme: „(…) Dr. Mukhtars Pillen machten ihre Stimme weniger tief, beschränkten allerdings ihre Resonanz, ihr Timbre wurde rauer und seltsam krächzend, was manchmal klang, als würden zwei Stimmen miteinander streiten.“ An ihrer Haarfarbe: „Es wuchs weiß wie der Tod aus ihrem Kopf und wurde plötzlich auf halber Höhe ihres Kopfes kohlrabenschwarz, so dass sie, nun ja – gestreift aussah.“ Bald kreist auch der Leser um Anjum. Man kann nicht anders, als sie gern zu haben.

Arundhati Roy ist eine große Erzählerin

Arundhati Roy erzählt nicht nur, sie berichtet auch. Von religiösen Konflikten, von politischen Konflikten. Konflikte, die jenseits der indischen Grenzen liegen, schwappen auf das Land über. Der 11. September 2001 war ein verhängnisvoller Tag. Nicht nur für die USA, sondern für das Gleichgewicht der ganzen Welt. In den politischen Wirren, die Indien in den darauf folgenden Monaten und Jahren erlebt, überlebt Anjum ein furchtbares Massaker. Sie überlebt die blutige Raserei, denn in den Augen der „Schlächter“ bringt es Unglück eine Hijra zu ermorden. Wenige ruhige Sätzen genügen der großen Erzählerin Roy um das große Grauen zu rekapitulieren:
Sie versuchte zu vergessen, was all den anderen angetan worden war – wie sie die Männer gefaltet und die Frauen entfaltet hatten. Und wie sie sie schließlich Glied um Glied auseinandergerissen und angezündet hatten.
Männer und Frauen, die ‚gefaltet‘ und ‚entfaltet‘ werden. Roys Sprache wird in Momenten des tiefsten Schmerzes ganz einfach, nahezu schlicht, was den Effekt des Schreckens und großen Traurigkeit noch verstärkt. Anjum ist traumatisiert, sie zieht sich vollkommen zurück, verweigert ärztliche Hilfe und sucht Zuflucht dem Friedhof, auf dem später ihr Gästehaus und die Zuflucht für die Menschen entstehen wird, die Anjum ihre Geschichte erzählen werden.

Roys Worte sind voller Poesie. Sowohl Glück als auch Leid beschreibt sie mit eindrucksvoller Metaphorik. Das Ministerium des äussersten Glücks ist bunt, wild und voller Schönheit. Roys Sprachpoesie, wurde von Anette Grube, die bereits Der Gott der kleinen Dinge übersetzt hat, wunderbar ins Deutsche übertragen.

DAS MINISTERIUM DES ÄUSSERSTEN GLÜCKS von ARUNDHATI ROY
S. FISCHER VERLAG. S. 560. 24 Euro.
Gebunden mit Schutzumschlag.

Vielen Dank an den S. Fischer Verlag für das Rezensionsexemplar!