Autorenportrait von Nikolai Gogol (1809-1852)

Ein Psychoanalytiker hätte an Nikolai Gogol seine helle Freude gehabt. Es sollte das Adjektiv gogolesk geben. Von allen russischen Schriftstellern ist mir Nikolai Gogol der rätselhafteste. Seinen Freunden galt Gogol als merkwürdig, wunderlich und mitunter auch schwierig. Gogols Leben in drei knappen Worten: Literatur, Ruhm und der Teufel. Erl ist ein Mysterium, ist selbst ein »ungelöstes Rätsel«, wie der russische Philosoph Berdjajew das Werk des Erzählers, das heute zur großen Weltliteratur zählt, nennt.

Klein von Statur, der Gang hüpfend

Pagenschnitt, akkurat seitlich gescheitelt. Der Hemdkragen weiß, der Rock rötlich-organge. Die Nase spitz, die Augen schelmisch blitzend. Die Wangen gerötet, die Lippen unter dem Schnurrbart voll. Die Mundwinkel ganz leicht, wie zu einem amüsierten Lächeln, nach oben gezogen. So wurde Gogol von dem Maler Alexander A. Iwanovportraitiert. Und so blickt der ukrainisch-russische Schriftsteller, der zu den ganz großen Erzählern Russlands zählt, seine Betrachter aus nachfolgenden Jahrhunderten an. Eine gewiss wohlwollende Darstellung, denn von seinen Zeitgenossen wurde Gogol als hässlichbeschrieben. Vor allem seine übergroße Nase ist es, die immer wieder Erwähnung findet. Auch sein irgendwie hüpfender Gang. Seine kleine Statur. Und das Büschelchen Haar, das er auf dem Kopf trug. Nun darf man zu Recht fragen: Wen interessiert das Äußere eines Schriftstellers? Gogol wandelte den beißenden Spott, den er erfuhr, in große Kunst. Er machte keine Adonisse zu seinen Helden. Eine seiner berühmtesten Erzählung heißt gar: Die Nase.

Nikolai Gogol: Der Urvater des russischen Surrealismus

Nikolai Gogol verehrte Alexander Puschkin, las Goethe und Schiller. Und schrieb doch selbst ganz anders: Seine Werke schwanken auf dramatische Weise zwischen Satire und Groteske. Gogol übersteigert seinen Realismus oft ins märchenhaft Fantastische, vermischt mit ukrainischer Folklore. Er erfand verblüffende Kompositionsverfahren und war ein wahrer Sprachkünstler. Als Beweis dafür können seine mäandernden Satzkonstruktionen gelten. Gleichzeitig erweist er sich als großer Humorist. »Puschkins Prosa hat drei Dimensionen«, schrieb Vladimir Nabokov in dem Buch, das er über Gogol schrieb, »die Gogols hat vier.«
Schon immer beschäftigte Nikolai Gogol sich mit Religion, in seinen letzten Lebensjahren jedoch verfiel er gänzlich einem religiösen Mystizismus, der in der vollkommenen Selbstzerstörung gipfeln sollte. Der Schriftsteller verweigerte jedwede Nahrungsaufnahme und verhungerte schließlich. Kurz vor seinem Tod verbrannte er – fest von der Präsenz des Teufels und der Tatsache, dass die Literatur ihn in die Hölle brächte überzeugt – das Manuskript des zweiten Teils seines einzigen Romans Die toten Seelen.

Petersburger Erzählungen

Die Petersburger Erzählungen stecken voller gogolesker Momente. Das Unheimliche, das Bedrohliche, das sich für den Schriftsteller hinter den Fassaden des glänzenden Sankt Petersburg verbarg, wird immer wieder sichtbar. So auch in der Erzählung Der Mantel. In einem Antiquariat stolperte ich über eine Ausgabe der Petersburger Erzählungen, die 1983 in dem heute nicht mehr existierenden Berliner Verlag Der Morgen erschienen ist. Es ist meine dritte Ausgabe (und die dritte Übersetzung) von Gogols Erzählungen, aber mit Abstand die schönste. Sie enthält 35 Reproduktionen von Farblithographien, die der russische Künstler Victor S. Vilner gefertigt hat. Vilner war Begründer der St. Petersburger Lithographen Schule und Professor an der dortigen Kunstakademie. Eins seiner Werke findet sich im MoMA in New York . Auch den Mantel hat Vilner er darstellt.

Nikolai Gogol: Der Mantel

Die Erzählung ist – typisch für Gogol – eine Mischung aus zugespitzter Komik und Tragik. »Wir kommen alle von Gogol’s Mantel her«, Dostojewski soll es gesagt haben und Vladimir Nabokov konstatierte mit Blick auf die Novelle:
»Die Lücken und schwarzen Löcher im Geflecht von Gogol’s Stil lassen auf Mängel im Geflecht des Lebens schließen. Irgendetwas stimmt da nicht, und alle Menschen sind leicht geistesgestört … das ist die eigentliche Botschaft der Erzählung.«
Wovon handelt die Erzählung? Gogol berichtet darin von Akakij Akakijewitsch, dem auf dem nächtlichen Rückweg von einem Festessen bei seinem Bürovorsteher der Mantel gestohlen wird. Mit Akakij Akakijetisch hat Gogol  eine komisch-tragische Figur erschaffen. Sein Äußeres beschreibt Gogol – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Oder gar an Gogol selbst – folgendermaßen:
»Er war klein gewachsen, ein wenig pockennarbig, ein wenig rothaarig und sogar ein wenig kurzsichtig; er hatte eine kleine Stirnglatze, seine Wangen durchzogen Falten, und sein Gesicht hatte jene Farbe, die man als hämorrhoidal bezeichnet … Was kann man da machen! Schuld hat das Petersburger Klima.«
Akakij Akakijewitsch arbeitet im Department als beamteter Schreiber, der weder von Untergebenen noch von Kollegen, die sich allerhand Scherze erlauben und wüste Geschichten über ihn erfinden, geschätzt wird:
»Wann und zu welcher Zeit er in das Department eingetreten war und wer ihn eingestellt hatte, daran konnte sich niemand mehr erinnern (…), so daß man später denken mochte, er sei offenbar bereits fix und fertig als Beamter auf die Welt gekommen.«
Akakij Akakijewitsch erträgt das alles mit stoischer Gleichmütigkeit. Nur dann und wann, wenn es gar zu arg wird sagte er: »Laßt mich doch in Frieden, warum beleidigt ihr mich?« Unter größten Entbehrungen spart der kleine Petersburger Beamte für einen neuen Wintermantel, dessen er dringend bedarf. All seine Lebensenergie verwendet er darauf. Der neue Mantel verhilft Akakijewitsch zu kurzem Glück, aber sein Verlust richtet ihn völlig zugrunde. Nach seinem Tod kommt die Geschichte, »überraschend zu einem phantastischen Ende«: In Sankt Petersburg ereignen sich allerlei unerklärliche Vorfälle, die erst ein Ende finden, nachdem das Gespenst des armen Akakij Akakijewitsch den Mantel wiederbekommen hat.

Da steh ich nun, ich armer Tor …

Je nach Standpunkt (wahlweise aus der Perspektive der Sozialkritik, des Formalismus oder der Psychoanalyse) ist die Deutung der Novelle eine andere. Die sowjetische Gogol Forschung sah in der Erzählung einen Protest gegen das bürokratische Feudalsystem. Neuere Forschungen sehen den kleinen Beamten als Opfer teuflischer-irdischer Versuchung, als Träger einer großen Idee oder als Sinnbild der Fragilität aller menschlichen Existenz und lesen die Novelle als Parabel von der Versuchung des Menschen durch den Teufel, der in vielerlei Verkleidung auftreten kann. Gogol selbst, so Nabokov, habe seine eigene Literatur gründlich missverstanden, nämlich als Erbauungsliteratur. Grotesk, das alles. Aber gute Lektüre!